Im Jahr 2019 haben wir intensiv mit insgesamt 46 Falldokumentationen gearbeitet. Bei diesen Falldokumentationen handelt es sich um für unsere Forschungszwecke aufbereitete Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, in deren Kontext digitale Medien zum Einsatz kommen.
Die Fallauswahl und Fallaufbereitung oblag den insgesamt zehn mit uns kooperierenden spezialisierten Fachberatungsstellen, denen wir an dieser Stelle unseren Dank aussprechen möchten. Zentrales Samplingkriterium der Stellen war ein nachweisliches Expert*innentum im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus entschieden typologisch repräsentative Merkmale wie das Geschlecht der durch die Stellen beratenen Personen sowie weitere Unterscheidungsmerkmale (Mehrsprachigkeit/gedolmetschte Beratung, Barrierefreiheit, Beratung im Kontext sexueller Orientierung) bei der Auswahl der Stellen eine Rolle.
Die Fallauswahl oblag jeweils den Fachstellen unter der Voraussetzung der Einwilligung der Gewaltbetroffenen und sofern erforderlich deren Erziehungsberechtigter. In ihrem Aufbau folgen die Falldokumentationen einem durch das Forschungsteam konzipierten teilstandardisierten Dokumentationsraster. Dieses umfasst Angaben zu (a) sexualisierten Gewalthandlungen, (b) der Rolle digitaler Medien, (c) Betroffenen, Täter*innen, sozialen Bezugssystemen, (d) Kontext- und Risikofaktoren, (e) der Aufdeckung, (f) unmittelbaren Reaktionen des sozialen Bezugssystems nach der Aufdeckung, (g) Belastungen und Befindlichkeit der Betroffenen, (h) geleisteter Hilfe und (pädagogischen) Interventionen sowie (i) Herausforderungen.
Die Rekrutierung der Fachstellen erfolgte mittels eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens sowie eines freihändigen Vergabeverfahrens. Das Sampling basierte auf einem vorab festgelegten Kriterienkatalog. So wurde auf (a) eine möglichst bundesweite Streuung, (b) die Berücksichtigung städtischer wie ländlicher Regionen, (c) Parteilichkeit, (d) fachliche Eignung, (e) Erfahrung in der Arbeit zu sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend, (f) Expertise zur Mediatisierung sexualisierter Gewalt, (g) die Qualifikation der Mitarbeitenden und (h) Vorerfahrungen in Qualitativer Sozialforschung geachtet. Sechs der Beratungs- und Präventionsstellen arbeiten mit Betroffenen aller Geschlechter. Zwei Fachberatungsstellen sind auf die Arbeit mit männlichen* und zwei weitere auf die Arbeit mit weiblichen* Betroffenen spezialisiert.
Das Verhältnis der Geschlechter (27 weiblich* identifizierte Betroffene, 19 männlich* identifizierte Betroffene) sowie der betroffenen Altersklassen entspricht dem Erkenntnisstand repräsentativer Studien. So liegt in 21 Falldokumentationen das Alter der betroffenen Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren (siehe Abbildung 1).
In 31 Falldokumentationen handelt es sich um volljährige Täter*innen, in 11 Falldokumentationen liegt das Alter der Täter*innen zwischen 10 und 16 Jahren. Hinzukommen 4 Falldokumentationen ohne entsprechende Altersangabe.
Betrachten wir die Täter*innen-Opferbeziehung (Abbildung 2), sehen wir, dass in 15 Falldokumentationen sexualisierte Gewalt mit digitalem Medieneinsatz durch eine Onlinebekanntschaft verübt wurde, wobei diese von den Gewaltbetroffenen teils als Freundschaft oder Liebesbeziehung verstanden wird. In 13 Falldokumentationen entstammt der Täter bzw. die Täterin dem familiären Umfeld. In den verbleibenden 18 Falldokumentationen gehört der Täter bzw. die Täterin jedoch ebenfalls dem Nahfeld an.
* Die Begriffe Online- und Offline-Gewalt definieren lediglich das Medium der unmittelbaren Verletzungshandlungen. Die Begrifflichkeiten erlauben somit keine Rückschlüsse auf die Täter*innen-Opfer-Beziehung oder die darüberhinausgehende Rolle digitaler Medien.
Digitale Medien werden im Kontext sexualisierter Gewalt gemäß unserer Falldokumentationen häufig zur Herstellung und Aufrechterhaltung des Kontakts zu Betroffenen eingesetzt. Aber auch im Rahmen der Verübung sexualisierter Gewalt spielen digitale Medien eine bedeutsame Rolle. So werden sie von Täter*innen häufig zur digitalen Aufzeichnung der sexualisierten Gewalt oder aber zur Verbreitung digitaler Gewaltzeugnisse (bspw. sexualisiertes Bild- oder Videomaterial, Chatverläufe) genutzt.
In 39 von 46 Falldokumentationen wird Vulnerabilität (bspw. emotionale Bedürftigkeit, Fluchterfahrung, innerfamiliäre psychische Vorbelastungen, konfliktreiche Familienverhältnisse) als die sexualisierte Gewalt mit digitalem Medieneinsatz begünstigenden Faktor benannt. Das technische Möglichkeitsspektrum (bspw. Möglichkeit der Identitätsverschleierung) wird in 25 Falldokumentationen als Begünstigungsfaktor sexualisierter Gewalt angeführt. Weiterhin bewerten 14 Dokumentierende ein fehlendes Risikobewusstsein aufseiten Betroffener sowie unzureichende Medienerziehung als gewaltbegünstigend, während 11 Falldokumentierende selbiges für das Gelingen der Täter*innenstrategie (bspw. Erpressung, Sexualisierung) konstatieren. Sechs Falldokumentationen zufolge stellten strukturelle Faktoren wie fehlende Schutzkonzepte einen Begünstigungsfaktor der sexualisierten Gewalt mit digitalem Medieneinsatz dar.